Alles Monet

Meine Besuche in der Albertina

Silvia Hansjakob, Jänner 2019

Die Ausstellung von über hundert Monet-Gemälden in der Albertina macht Schlagzeilen und Wien steht Schlange, um die Meisterwerke zu bewundern.  Ich bin privilegiert: Corinne, Kunstvermittlerin in der Albertina, führt mich durch die Ausstellung. Da ich bereits dort bin, ergreife ich die Gelegenheit und gehe allein noch einmal durch die Räume, ich komme sogar ein drittes Mal zurück: bei einer von Corinne geführten Tour, die ich für meine französischsprachigen Freunde organisiert hatte. Seitdem beschäftigen mich die Eindrücke immer wieder – es gibt kaum ein Thema, das ich nicht mit Monet in Verbindung bringe. Um meinen Gedanken eine gewisse Ordnung zu geben, schreibe ich sie hier auf. Und auch, weil es sicherlich eine gute Übung für mein Französisch ist (das hier ist nämlich die später hergestellte Übersetzung).

Vor dem Gemälde, das Vétheuil im Nebel zeigt, stelle ich mir die Frage: Wie kann man sagen, dass dieses Gemälde nicht die Realität zeigt? Gut, ich kann die Details von Vétheuil nicht sehen, aber ich spüre die Feuchtigkeit und die Kühle des Nebels. Und bei der Serie über die Creuse – bei jedem der vier Bilder könnte ich die Lufttemperatur angeben.

Sicherlich würde jeder eine andere Temperatur fühlen, hat doch jeder seine eigene Sicht der Dinge, seine eigenen Erfahrungen mit Kälte und Hitze. Monets „Creuse“-Gemälde lassen uns die Freiheit, das zu sehen, was wir sehen können, je nachdem, was wir erlebt haben.

Monet malt Serien, um ein Motiv unter verschiedenen Lichtverhältnissen und zu verschiedenen Jahreszeiten zu zeigen. Dies scheint mir eine ziemlich systematische Methode zu sein, um die technischen Möglichkeiten der Malerei zu untersuchen. Es ist übrigens eine Methode, die fast alle Fotografen von Zeit zu Zeit anwenden, um die vielfältigen Funktionen ihrer Kamera zu studieren.

Beim Besuch durch die Ausstellungsräume fällt mir auf, dass ich mich unter diesen Bildern sehr wohl fühle; keine provokanten Szenen, keine unangenehmen Themen, keine kritischen Botschaften. Als ich darüber nachdenke, wird mir klar, dass ich mit meinen Fotos gerne die guten Seiten der Dinge zeigen möchte, um eine angenehme Erinnerung festzuhalten.

Ich hätte mich gerne ein bisschen in den Garten zu Camille mit dem Kind gesetzt. Ich würde mich hinter dem Blumenschirm gut geschützt fühlen. Wie komme ich darauf, dass ich mich in dieser Ecke wohlfühlen würde? Ist es das Fehlen jeglicher Symbolik, die ich entschlüsseln können müsste, um ein Gemälde zu verstehen? Ist es die Abwesenheit von berühmten Persönlichkeiten, die allein einem Gemälde seinen Wert verleihen? Die Abwesenheit ist in Monets Bildern überall präsent. Oliver Sacks, ein amerikanischer Neurologe, erzählt uns die Geschichte eines Blinden: Im Alter von vier Jahren erblindete er. Zwanzig Jahre später kann er dank einer neuen medizinischen Behandlung wieder sehen. Die Heilung ist vollständig, der junge Mann sieht alles, jedes Detail, vom Vordergrund bis zum Hintergrund, wie jemand, der nie blind gewesen ist. Und hier liegt das Problem: Als Blinder hat er nicht gelernt, zwischen den Details zu unterscheiden, die nützlich sind, um die notwendigen Dinge wahrzunehmen, und den nebensächlichen Details, die Verwirrung und Durcheinander verursachen. Es ist dieser Filter, der die unnötigen Details eliminiert, der ihm fehlt. Ist Monet also der Filter, der uns überflüssige Details erspart, damit wir eine freiere Realität wahrnehmen können? Ist es die Kunst des Malers, die Details zu reduzieren und uns so zu ermöglichen, eine Realität zu sehen, die durch unsere eigenen Erfahrungen interpretiert wird, oder ist es die Kunst des Malers, so viele Details wie möglich wiederzugeben oder sogar hinzuzufügen, damit wir das Bild nach und nach entdecken und entschlüsseln können? Zur gleichen Zeit, in der die Albertina das Werk Monets ausstellt, präsentiert das Kunsthistorisches Museum in Wien – für die Wiener/innen kurz KHM – das Werk Brueghels. Was für ein schöner Zufall, um über diese Frage nachzudenken.

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